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Für den Nationalpark Harz stellen reichlich 18 Jahre nach der Erstgründung viele Bürger der Harzregion die Frage , wie weit die Entwicklung vom Wirtschaftswald zum Naturwald vorangeschritten ist, welche Probleme es dabei gibt, wie wir uns in Mitteldeutschland Naturwald vorstellen müssen und welche Zeiträume erforderlich sind, bis das Ziel Naturwald erreicht ist? Um Antworten auf diese Fragen geben zu können, hatte die Quedlinburger IG Ornithologie und Naturschutz den stellvertretenden Leiter des Nationalparkes , Diplom-Biologen Dr. Hans-Ulrich Kison (Quedlinburg) , zu ihrer öffentlichen Januar-Vortragsveranstaltung „Die Entwicklung der Kernzone des Nationalparks Harz: Tier- und Pflanzenwelt sowie Waldbestockung“ eingeladen. Mit der Wahl dieses Themas hatten die Quedlinburger Naturschützer einen guten Griff getan – buchstäblich bis zum letzten Platz waren am 14. Januar 09 alle Sitzgelegenheiten im Vortragsraum des Kunsthokens besetzt.

Der Referent machte deutlich, dass die zentrale Zielstellung der Entwicklung des Nationalparkes Harz darin besteht, 2 für das mittlere Deutschland überaus wichtige Baumarten - die Fichte und die Rotbuche - in Form standortgerechter Naturwaldkomplexe zu etablieren und ohne weitere Eingriffe des Menschen auf der Basis natürlicher Waldkreisläufe dauerhaft zu erhalten. Dazu muss man wissen, dass die Wiederbesiedlung unserer Region durch die Fichte erst vor ca. 6000 Jahren begonnen hat. In den mitteldeutschen Raum ist aus dem östlichen Mittelmeerraum kommend die Fichte über den Karpaten- und Sudetenbogen bis zum westlichsten Vorposten Hochharz eingewandert. Mit Ausnahme der Fichten des Hochharzes sind diese Fichtenbestände der allmählichen Klimaerwärmung, später der Nutzung durch den Menschen und schließlich der Verdrängung durch forstlich kultivierte Fichten aus ganz anderen Herkunftsgebieten zum Opfer gefallen. Unter den heutigen Klimabedingungen käme die standortangepasste „Harz“-Fichte nur auf ca. 5 % der heutigen Waldfläche des Harzes vor. Tatsächlich sind aber mehr als 60 % der Wälder des Harzes mit meist nicht standortgerechten „Fremdfichten“ bestockt, die jetzt zunehmend ihre Anfälligkeit gegenüber niederschlagsarmen Sommern, Stürmen und Borkenkäfer-Massenvermehrungen offenbaren. Auch die Buche ist nach der Eiszeit vor etwa 3000 Jahren wieder aus dem Süden in den baumfreien Norden eingewandert. Im Gegensatz zur Fichte hat sie dabei die wärmeren und feuchteren Gebiete Westeuropas bevorzugt. Östliches kaltes Kontinentalklima verträgt die Buche nicht. Deswegen kommt den „Harzbuchen-Populationen“ ebenfalls eine besondere Bedeutung zu. Durch die Buche geprägte Laubwälder würden natürlicherweise ca. 66 % der Nationalparkfläche einnehmen, wenn der Mensch sie nicht durch die frühere Forstwirtschaft auf einen Restbestand von 18 % zurückgedrängt hätte. Diese Verhältnisse sollen nun schrittweise korrigiert werden. Der gesetzliche Auftrag des Nationalparks lautet: Förderung der standortgerechten Laubmischwälder. Diese werden große Teile der Fläche heute absterbender Fichtenforste einnehmen. Das braucht aktive Unterstützung. Im Selbstlauf würden wieder nur Fichtenbestände entstehen, denn die Fichte ist in ihrer spontanen Verjüngung sehr erfolgreich, und der Borkenkäfer interessiert sich erst ab einem Alter von etwa 60 Jahre für sie. Dagegen sind die Bestände der Laubgehölze zumeist so lokal begrenzt, dass sie aus eigener Kraft eine Besiedlung der frei werdenden Flächen nicht schaffen. Es sollen diese Laubwälder aber nicht wie forstliche Strukturen flächig angebaut werden. Ziel ist es, Initialpflanzungen vorzunehmen, die Ausgangspunkte für den Naturwald sind und sich in den nächsten Waldgenerationen ausweiten sollen. Dabei gilt: Im Naturdynamikbereich (41 % der Nationalparkfläche) soll die Natur sich selbst überlassen bleiben, sich selbst „helfen“ (Natur Natur sein lassen) .Bis auf wenige Ausnahmen finden hier keine steuernden Eingriffe des Menschen mehr statt. In der Naturentwicklungszone (58 % der Fläche) werden noch unterstützende Maßnahmen für den Waldumbau realisiert mit dem Ziel, dass 2022 75 % der Gesamtfläche allein durch natürliche Entwicklungsprozesse geprägt sind. Der Wald ist dann auf dem besten Wege, Naturwald zu werden. Das wichtigste Erkennungsmerkmal dafür ist: Auf der Waldfläche stocken wieder Bäume aller Altersstufen – bis hin zum sterbenden und zum abgestorbenen Baum.

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Primat haben die Baumarten, die von Natur aus mit dem Standort am besten zurecht kommen, weil sie genetisch angepasst sind. Eine besondere Herausforderung an die Fachleute des Nationalparkes stellt der teilweise intensive Borkenkäfer-Befall dar. Der Borkenkäfer ist ein natürliches Element von Fichtenwäldern. Er forciert das Absterben der Fichten in der Monokultur. Dort wo das relativ kleinteilig erfolgt, unterstützt dies die angestrebte Waldentwicklung. Greift die Borkenkäferwelle aber auf die große Fläche zu und zerstört die Bestände wie im Zeitraffer, muss die Befallswelle nach Möglichkeit gebrochen werden. Dabei wird versucht, das Absterben der Fichten zu verzögern, um Initialpflanzungen der Buche und anderer Laubbäume im Schirm der alten Fichten vorzunehmen. Auf Freiflächen wächst die Buche ungleich schlechter an. Daher werden zum Schutz großer, zusammenhängender Fichtenbestände Borkenkäfer- Bekämpfungsmaßnahmen auch im Nationalpark vorgenommen, um im Schutz der alten Fichtenbestände „Geburtshilfe“ für die neue und anders aussehende Waldgeneration zu haben. Selbst unter abgestorbenen Fichten wachsen junge Buchen besser heran. Totholz muss daher so weit wie möglich im Wald verbleiben, denn es ist wichtig für die Verjüngung, aber auch für den natürlichen Stoffkreislauf im Wald, der oft über Jahrhunderte Forstwirtschaft aus den Fugen geraten ist. Das Bild toter Bäume wird im Nationalpark deswegen auch zukünftig zu sehen sein. Mit speziellen Maßnahmen wird andererseits konsequent dafür Sorge getragen, dass angrenzende Wirtschaftswälder nicht geschädigt werden. Die Fachaussagen des Vortrages auch zu vielen Details bis hin zu Jagdfragen und die rege Diskussion der Veranstaltungsteilnehmer können zu einem klaren Bild zusammengefasst werden: Die schrittweise wissenschaftlich fundierte Umwandlung forstlicher Monokulturen in standortgerechte naturnahe Bergfichten- und Rotbuchenwälder ist in breiter Front in Fahrt gekommen. Im Ansatz wird punktuell bereits heute sichtbar (Hohnekamm, am Brocken, auf dem Acker oder am Bruchberg), wie wir uns die Endphase von strukturreichen Naturwäldern vorstellen können. Der durch den Menschen sehr behutsam gelenkte Vorgang eines natürlichen Waldumbaus kann aber erst nach Ablauf mehrerer Baum-Generationen, dass heißt nach vielen Jahrzehnten, seinen vollständigen Abschluss findend. Es wurde deutlich, dass diese auf nachhaltigen und unverzichtbaren Erhalt von Naturreichtümern ausgerichtete Arbeit der zuständigen Landesbehörden und Nationalparkmitarbeiter eine breite Unterstützung auch von den Bürgern Quedlinburgs erfährt.