Kopf Verein

Müncheberg, eine östlich von Berlin im Landkreis Märkisch-Oderland gelegene Kleinstadt beherbergt seit Ende der 1920er Jahre mehrere landwirtschaftliche Forschungseinrichtungen. Begonnen hat es mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung (1928-1945) (Wikipedia 2021a).

Reinhold von Sengbusch war seit Eröffnung des Instituts bis 1937 als Abteilungsleiter angestellt. Er war einer der vielseitigsten Wissenschaftler und Pflanzenzüchter Deutschlands. Unter seiner Leitung gelang es, alkaloidfreie Mutanten bei Lupinen aufzufinden und daraus eine neue Kulturpflanze, die Süßlupine zu entwickeln. Sengbusch beschäftigte sich u.a. mit Getreide, Gemüse, Obst und Industriepflanzen (Sengbusch um 1980). Er züchtete z. B. die einhäusigen (monözisch) Spinatsorten 'Wisemona' und 'Somona'. Am bekanntesten dürfte allerdings die Erdbeersorte 'Senga Sengana' sein (Wikipedia 2021b).

1930 übernahm Sengbusch F1-Nachkommenschaften aus Kreuzungen zwischen Solanum pimpinellifolium (damals als S. racemigerum bezeichnet) und verschiedenen Sorten von Kulturtomaten (Solanum lycopersicum) (Hackbarth et al. 1933). S. pimpinellifolium (Abb. 1) ist eine kleinfrüchtige, süß schmeckende Wildform aus Südamerika, die sich durch Frühreife, Platzfestigtigkeit und Resistenz gegen die Samtfleckenkrankheit (Fulvia fulva, syn. Cladosporium fulvum) auszeichnet. Sie reift ca. 8-14 Tage früher als damalige Kulturformen der Tomate (Tab. 1).

S pimpinellifolium Hoppe

Abb. 1: Solanum pimpinellifolium (Wildtomate) freilaufend, nicht ausgegeizt (Foto G. + H.-D. Hoppe)

Tab. 1: Auszug aus den Sortimentsbeobachtungen 1931 (entnommen aus: Hackbarth et al. 1933)

Sortenbezeichnung

Blühbeginn nach Tagen

Reifezeit nach Tagen

Reifeverlauf

(relativer Anteil Pflanzen mit reifen Früchten)

11.7.

18.7.

28.7.

1.8.

8.8

15.8.

S. racemigerum Nr. 42

70

123

13

67

80

100

--

--

Präsident Garfield

90

139

--

--

20

67

100

--

Bonner Beste

80

135

--

--

44

56

89

100

Tuckswood

83

139

--

--

8

31

70

100

Kirschförmige Gelbe

98

146

--

--

70

70

80

80

König Humbert

90

139

--

--

17

33

58

100

1931 untersuchten Sengbusch und seine Mitarbeiter Joachim Hackbarth und Natascha Loschakowa-Hasenbusch die F2-Nachkommenschaften auf züchtungsrelevante Merkmale. Wobei insbesondere Frühreife und Großfrüchtigkeit berücksichtigt wurden. Zum Vergleich wurden damals gängige Kultursorten angebaut (Tab.1).

Über verschiedene Selektionsschritte mit mehreren 10.000 Sämlingen konnten geeignete Nachkommen ausgewählt werden. Ein Teil von ihnen wurden mit Kultursorten zurückgekreuzt. Auf diesem Wege entstanden frühreifende, großfrüchtige Linien. Die Linien mit einem Fruchtgewicht von über 30 g wurden 1935 einer Reihe von Zuchtbetrieben zur eigenen züchterischen Bearbeitung zur Verfügung gestellt (Sengbusch 1935).

Seit 1937 sind in historischen Saatgutkatalogen Sorten zu finden, die auf die Müncheberger Linien zurückgehen. Das frühreifende Zuchtmaterial wurde als Kreuzungspartner mit ertragreichen Sorten genutzt. Die Quedlinburger Firma Rudolf Schreiber & Söhne entwickelte daraus die Tomatensorte 'Allererste', die ab 1937 im Handel war. Das Zuchtmaterial der Schreibers wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch das Institut für Pflanzenzüchtung Quedlinburg übernommen und weiterentwickelt. 1951 erfolgte die Zulassung der 'Frühen Liebe' (syn. 'Quedlinburger Frühe Liebe'), sie ist aus der Kreuzung 'Allererste' x 'Mikado' entstanden (Kraus 1954). Die 'Frühen Liebe' gehört zu den Erhaltersorten des Vereins zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt (VEN).

Den größten Erfolg feiert das Müncheberger Material in der Stabtomatensorte 'Harzfeuer F1'. Einer der Eltern ist die 'Frühe Liebe'. Die 'Harzfeuer F1' zählt zu den bekanntesten und beliebtesten deutschen Sorten. Sie ist seit 1959 zugelassen (Zentralstelle für Sortenwesen)! Von den drei Erhaltungszüchtern ist auch einer in Quedlinburg ansässig, die ISP International Seeds Processing (Bundessortenamt 2022).

Von den in Tab. 2 aufgeführten und nicht extra erwähnten Sorten sind nur noch die 'Zuckertomate', 'Lyconorma' und 'Lycoprea' in der Genbank des IPK Gatersleben als Akzessionen zu finden. Die beiden letztgenannten Sorten sind Buschtomaten und speziell für norddeutsche Verhältnisse unter Beteiligung von Sengbusch gezüchtet worden (Sengbusch um 1980). Sie sind besonders frühreif und reifen im Hamburger Raum bei Freilandkultur bereits Mitte Juli, während andere Sorten erst nach dem 1. August reife Früchte liefern. 'Lyconorma' und 'Lycoprea' haben wahrscheinlich Kreuzungseltern, die aus dem ursprünglichen Müncheberger Rückkreuzungsprogramm stammen.

Tab. 2: Sorten von Kulturtomaten, die nachweislich aus den Müncheberger Zuchtlinien direkt selektiert oder mittels Kreuzungszüchtung weiterentwickelt wurden

Sortenname

Firma

Jahr

Zuchtverfahren

Zucker-Tomate

F. C. Heinemann Erfurt

1937

Einzelauslese

Allererste

Rudolf Schreiber & Söhne Quedlinburg

1937

Einzelauslese

Rote Beere

Rudolf Schreiber & Söhne Quedlinburg

1937

Einzelauslese

Zucker-Tomate kleinfrüchtig

Weigelt & Co. Erfurt

1938

Einzelauslese

Zucker-Tomate großfrüchtig

Weigelt & Co. Erfurt

1938

Einzelauslese

Zuckertomate

Friedr. Adolph Haage Jun. Erfurt

1938

Einzelauslese

Zuckertomate kleinfrüchtig

Ernst Benary Erfurt

1939

Einzelauslese

Fromholds Müncheberger Frühtomate

E. Fromhold & Co. Naumburg

1945

Wahrscheinlich Kreuzung

Benarys Gartenfreude

Ernst Benary Erfurt

1950

Mutation aus Rote Beere

(Quedlinburger) Frühe Liebe

Institut für Pflanzenzüchtung Quedlinburg

1951

Kreuzung

Schreibers Priora

Rudolf Schreiber & Söhne Braunschweig

1954

Kreuzung

Harzfeuer F1

Institut für Pflanzenzüchtung Quedlinburg

1959

Kreuzung

Lyconorma (Buschtomate)

BA f. Züchtungsforschung an Kulturpflanzen Ahrensburg

1970

Kreuzung

Lycoprea (Buschtomate)

BA f. Züchtungsforschung an Kulturpflanzen Ahrensburg

1970

Kreuzung

Freude (Gardener's Delight)

Ernst Benary Samenzucht Hann. Münden

2008

?

Wahrscheinlich wurden noch mehrere Sorten unter Nutzung der frühreifen Formen von Sengbusch gezüchtet. Es ist allerdings schwierig dies nachzuvollziehen, da nicht alle Züchter die Herkunft bzw. die Kreuzungspartner benennen. Das Beispiel aus Müncheberg zeigt, welche Bedeutung die Forschung für die Entwicklung von verbesserten Sorten und deren Vielfalt hat.

Kompletter Artikel unter: https://vern.de/muencheberger-tomaten/

Quellen

Bundessortenamt (2022): Sorteninformationen. Hannover. Online verfügbar unter https://www.bundessortenamt.de/apps6/bsa_sorteninfo/public/de, zuletzt geprüft am 06.04.2022.

Hackbarth, J.; Loschakowa-Hasenbusch, N.; Sengbusch, R. v. (1933): Die Züchtung frühreifer Tomaten mittels Kreuzungen zwischen Solanum lycopersicum und Solanum racemiger. In: Der Züchter 5 (5), S. 97–105.

Kraus, Wilhelm (1954): Frucht- und Zwiebelgemüse. Arten- und Sortenkunde: Deutscher Bauernverlag (Arbeiten des Sortenamtes für Nutzpflanzen, 6).

Sengbusch, R. v. (1935): Die Müncheberger Tomatenarbeiten. Müncheberg. Online verfügbar unter https://pure.mpg.de/rest/items/item_39081_6/component/file_52548/content, zuletzt geprüft am 15.04.2021.

Sengbusch, R. v. (um 1980): Von der Wildpflanze zur Kulturpflanze. Eine Dokumentation meiner Arbeiten. Unveröffentlicht.

Wikipedia (Hg.) (2021a): Kaiser-Wilhelm-Institut für Züchtungsforschung. Online verfügbar unter https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Kaiser-Wilhelm-Institut_für_Züchtungsforschung&oldid=210059734, zuletzt aktualisiert am 21.03.2021, zuletzt geprüft am 11.04.2022.

Wikipedia (Hg.) (2021b): Reinhold von Sengbusch. Online verfügbar unter https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Reinhold_von_Sengbusch&oldid=213708569, zuletzt aktualisiert am 09.07.2021, zuletzt geprüft am 11.04.2022.

Zentralstelle für Sortenwesen der DDR: Sortenliste für landwirtschaftliche Kulturarten, Gemüse und Obst: VEB Deutscher Landwirtschaftsverlag. Jahrgänge 1950, 1951, 1959, 1961, 1990

 

 

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