Im Mittelalter hatten sich zwei Machtzentren etabliert. Da war der katholische Klerus mit dem Papst im Machtzentrum, die Basis waren die Bistümer, die Klöster und die Abteien mit ihren in Gottesehrfurcht gehaltenen Gläubigen. Der Gegenspieler war der Staat in Form der Kaiser- und Königreiche. Nur der König oder Kaiser verfügte über das Land und damit über die Hoheitsrechte. Er belehnte einflussreiche Adelsfamilien und Fürsten und schuf dadurch ein filigranes Netz vonkleinstaatlichen Fürstentümern. Das Lehnrecht sicherte die Loyalität und die Gefolgschaft des Belehnten. Infolge des Erbrechts verzweigten sich die Fürstentümer und auch Kaiser- und Königreiche immer wieder. Deshalb war Landzugewinn, egal wie und mit welchen Mitteln, eine existentielle Frage, in der Kriege und Intrigen keine ungewöhnlichen Spielarten waren, um den Besitz zu halten oder besser noch zu mehren. Das sei den nächsten Betrachtungen vorausgeschickt, um die erbitterten und ständigen Bemühungen im Kampf der anhaltischen Fürsten, um die Besitzungen des Stifts einordnen zu können.
Viele Jahrhunderte übten die Äbtissinnen durch die Vögte die staatsrechtliche Hoheit über das Dorf Gernrode aus. Wegen der sich ändernden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gegebenheiten in wachsenden Siedlungen, musste das bisher geltende Landrecht angepasst werden.
Im 13.Jahrhundert, nachdem der Ort größer geworden war, ordnete die amtierende Äbtissin eine Verwaltung an, die aus einem Rat mit Bürgermeister und Ratsherren bestand. Diese Ortsvertreter wurden von den Einwohnern gewählt. (1)
Das klang republikanisch und demokratisch und erweckte den Anschein einer städtischen eigenständigen Verwaltung. In Wirklichkeit entstand damit ein Instrument einer Befehlsvermittlungsstelle mit einem demokratischen Anstrich. Es deutete sich aber trotz aller noch bestehenden Hindernisse an, dass sich ein neues bürgerliches Rechtsgefüge neben dem feudalen Landrecht zu entwickeln begann. Die obere Gerichtsbarkeit aber, die über Leib und Leben der Untertanen bestimmte, blieb noch fest in den Händen der Abtei.
Pastor Hartung berichtet in seinem Buche „Zur Vergangenheit von Gernrode“, dass schon früh neben der Abtei eine Marktsiedlung vorhanden war. Das war vorstellbar, denn das Kloster und die Burg mussten versorgt werden.
Solche Siedlungen strebten das Marktrecht an. Das Marktrecht war zu dieser Zeit ein Recht, einen Wochen- oder Jahrmarkt abzuhalten. Der dafür bestimmte Platz stand dann unter Marktfrieden, also einem besonderen für den Markt und seine Besucher geltenden Recht und wurde vom Marktherrn (König, Fürst, Graf, Bischoff) geschützt.
Die in dieser Zeit entstehenden kleinen Kaufmannsiedlungen bündelten die Wirtschaftskraft. Zentrum solcher Siedlungen war der Markt. Hierher brachten die Bauern ihre Produkte. Beim Passieren der Stadtgrenzen wurden Zölle fällig. Das erhöhte das Interesse, einen eigenen Markt zu haben. Für die städtische Wirtschaft war dieses Privileg von entscheidender Bedeutung.
Die wirtschaftliche Bedeutung der Gernroder Kaufmannssiedlung ist wohl nie über den Ortsbereich hinausgegangen. Die verkehrsmäßig ungünstige Lage abseits der großen Verkehrsstraßen verhinderte das Entstehen eines reichen Kaufmannstandes. Das ist auch die Erklärung dafür, dass es in Gernrode keine beeindruckenden Fachwerkhäuser gibt wie in anderen gleichaltrigen Städten im Harzbereich.
Die Kaufleute Gernrodes sahen ihre vorrangige Aufgabe in der Versorgung der Bedürfnisse der Stiftsdamen, der Kleriker, der Ministerialen, Handwerker und Knechte des Stifts sowie die der Bergleute. Darin eingeschlossen war die Versorgung der bäuerlichen Siedler der nahen Umgebung, wie Rieder und der kleinen Orte Suderode, Bicklingen, Wellbeck und Elbingerode. Einen eigentlichen Handelsverkehr, der aufgrund eines königlichen Privilegs betrieben werden konnte, den hat es für die Gernroder Kaufleute nie gegeben.
Es war üblich, wenn sich in einem Ort Kaufleute ansiedelten und ein Marktrecht ausgesprochen wurde, diesen als Flecken zu benennen. In Gernrode vollzog sich dieser Prozess sehr zögerlich. In Gernrode gab es seit 1681 Märkte.
Der Sülzäppel und der Blockpiepenmarkt lockten viele Besucher nach Gernrode und machten es bekannter. Gehandelt wurden Lebensmittel, Schmiedewaren, Textilien, Tabakwaren, Töpfe und Pfannen aus Steingut. Selbst Zinn und Messing, Futtermittel, Obst und Gemüse wurden angeboten.
Mittels Postkutsche und Pferdegespannen war man mobiler geworden. Die Postkutsche brachte außer größerer Mobilität Sommergäste, malende Künstler, Pakete mit Rohstoffen und Fertigfabrikaten, Kartoffeln, Zucker, Rum, Steingut und Porzellan auf die Märkte. Die an der Handelsspanne verdienenden können sich bereichern, die auf kargen Lohn angewiesen sind, bleiben in der Armut. Die soziale Trennung wurde schärfer.
Im 14. und 15.Jahrhundert wurde die Vogtei über das Stift Gernrode ausschließlich von den Äbtissinnen kontrolliert. Das war keinesfalls immer so. Die Äbtissinnen hatten den Ort großzügig mit Wald und Weide, mit der Braugerechtigkeit und mit der niederen Gerichtsbarkeit begabt.
Als aber die Vögte, d. h. die anhaltischen Fürsten, Landesherren wurden, begannen diese, die Gerechtsamen einzuschränken. (2)
Sie verschärften die Vorschriften beim Brauwesen (3) sowie bei der Waldnutzung. Mit neuen Erlassen versuchten sie, die Freiheiten und Rechte des Fleckens einzuengen.(4) Die Bürger waren nicht gut auf die Vögte zu sprechen. Das gute Verhältnis zwischen Äbtissin und Rat und Gemeinde hatte sich im Bauernkrieg abgekühlt. In den Jahren 1523-1525 zerstörten die Bauern viele Harzer Klöster, so auch das in Ballenstedt, nur die romanische Krypta, das Refektorium, der Kreuzgang und der Kapitelsaal überlebten die Kampfhandlungen.
Die Situation im Land war äußerst kritisch, überall tobten Religionskriege, Plünderungen und Zerstörungen waren an der Tagesordnung. In den durch den Krieg betroffenen Territorien wurden alle wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse völlig umgestürzt.
Während ringsum im Lande die Klöster zerstört wurden, kam es in Gernrode und seiner Umgebung nur zu unbedeutenden Unruhen, die auf Grund der Besonnenheit und des Muts der Äbtissin von Weida völlig unblutig verliefen. Sie trat mit ihren Klosterfrauen den zerstörungswilligen Bauern mutig entgegen, bremste ihren wütenden Unwillen und brachte sie mit ihrer Ansprache zur Vernunft und zurück zu ihren Pflichten.
Die Abrechnung der Sieger dieses Krieges war bekanntlich grausam. Dagegen verlief sie in Gernrode eher angemessenObwohl die Untertanen infolge ihrer Auflehnung Leib, Leben, Ehre und das wenige Hab und Gut verwirkt hatten, verzichtete die Äbtissin darauf, peinliche Strafen zu verhängen.
Die Lage blieb insgesamt angespannt, die Strafmaßnahmen in Folge der Bauernunruhen, die häufigen Wechsel der Schutzvögte und die Verpfändung der Vogtei vergifteten unterschwellig die Beziehung zwischen der Abtei und der Bevölkerung. Die Gemeindehäupter nutzten die Situation, um ihre Rechte und Befugnisse zu festigen und auszubauen. Einige Jahre später ist die Macht der Äbtissin, inzwischen führte Anna von Plauen die Geschäfte der Abtei, so geschwächt, dass sie sich veranlasst sah, den Flecken durch Vergabe eines Siegels aufzuwerten.
Mit dieser beurkundeten Verleihung war das Recht auf äußere Souveränität für den Ort verbunden und die Befugnis für das Führen eines Wappens.
Im Kapitelsaal der Abtei fand, streng nach Protokoll, jedoch im kleinsten Rahmen, der Staatsakt zur Siegelübergabe statt. Die Stimmung war sehr förmlich und unterkühlt, man begnügt sich auf beiden Seiten mit dem Austausch der geringsten Höflichkeitsbezeugungen. Der evangelische Stiftsgeistliche und Lehrer Andreas Popperodt vermittelte die Übergabe und verlas den Wortlaut der Urkunde
Damals war das Recht, Siegel und Wappen führen zu dürfen, gleichbedeutend mit einer Stadtrechtsverleihung, obwohl die Verleihung ursprünglich ein kaiserliches oder landesrechtliches Privileg war. Das Stadtrecht ist kein einheitliches Stadtgesetz, sondern besteht aus mehreren Privilegien und Einzelrechten. Das Marktrecht ist das älteste, ergänzt durch städtische Gerichtsbarkeit und das Befestigungsrecht.
Durch die Äbtissin Anna von Plauen erhielt der Ort 1539 das Recht, ein Siegel und ein Wappen zu führen.(5) Eine ausdrückliche Verleihung des Stadtrechtes hingegen scheint nie erfolgt zu sein, allerdings gratulierte der anhaltische Städtelandtag, in dem Gernrode Sitz und Stimme hatte, 1939 zum 400. Jahrestag der Verleihung des Stadtrechtes.
Gernrode blieb auch im 18. und im 19.Jahrhundert Marktflecken, selten wird in Urkunden dieser Zeit von der Stadt Gernrode gesprochen.
Obwohl die Äbtissinnen des Stifts Landesherrinnen des Siedlungsgebiets waren, in dem Gernrode liegt, verwalteten die Bürger ihre Stadt selbst, so dass Gernrode schon früh über ein Rathaus verfügte.
Mittelpunkt einer jeden Stadt ist gemeinhin der Marktplatz mit dem Rathaus und der in Gernrode hat sich in Größe und Gestalt bis in die heutige Zeit kaum verändert. Die geographischen Bedingungen ließen keine Optionen dafür. Er hat wohl eher einen straßenähnlichen Charakter. Natürlich hat auch dieses Haus eine Geschichte. Das älteste Gernroder Rathaus soll 1530 erbaut worden sein. Mehr ist von diesem Haus leider nicht bekannt. Das Rathaus mit der längsten Dienstzeit, es war fast 250 Jahre die Verwaltungszentrale der Stadt, wurde kurz nach Beendigung des 30jährigen Krieges in den Jahren 1664 bis 1666 erbaut. Baumeister war der Zimmermann Andreas Bocken, die Baukosten beliefen sich auf 2375 Taler. Nikolaus Petersohn war der regierende Bürgermeister in der Bauzeit.
Die Gernroder Verwaltungszentrale für das städtische Gemeinwesen war zu Beginn des 20.Jahrhunderts seinen Aufgaben nicht mehr gewachsen. Der Verwaltungsaufwand wurde umfangreicher und immer komplexer. Für neue Geschäftsräume und mehr Arbeitskräfte, die zur Bewältigung des gestiegenen Verwaltungsaufwandes nötig wurden, taugte aber das baufällige vorhandene Rathaus in keiner Weise. Situationsbedingt entschied sich der Rat für den Bau eines neuen Rathauses. Dem geplanten Neubau standen zunächst auch viele Hindernisse im Weg. Nach heftigem Für und Wider über Bauen oder Nichtbauen, über Standort und über die Kosten siegte dann doch die Vernunft.
Nach der Genehmigung des herzoglichen Staatsministeriums wurde ein Baurat Starke mit der Ausarbeitung eines Entwurfs beauftragt, für den 80 000 RM veranschlagt wurden. Nach verschiedenen wunschgemäßen Änderungen, die Baurat Starke an dem Entwurf vornahm, stimmte der Herzog dem Projekt zu. Damit war der Weg für Gernrodes jetziges Rathaus frei. Regierender Bürgermeister und erster Amtsinhaber im neuen Haus war Gustav Schröder. Er erhoffte sich vom neuen Rathaus, dass es alle funktionalen Aufgaben zum Wohle der Stadt erfüllt. Er sollte auch in seiner "ganzen würdigen äußeren und inneren Ausstattung die Zierde und der Stolz unserer Stadt werden. Möge er zum Wahrzeichen der Stadt werden, ihr Ansehen und ihre Bedeutung richtig verkörpern." Der Rathausneubau war das wichtigste Ereignis für die Stadt. Leider stand der Baubeginn im Schatten eines ausbrechenden Krieges.
Am 5.Mai 1914 fand die Grundsteinlegung statt. Prominente Gäste bei den Feierlichkeiten waren der Magistrat und das Stadtverordnetenkollegium, die Mitglieder der Rathausbaukommission, Baurat Starke, der Architekt Knoche, die städtischen Beamten und die Handwerksmeister der Baugewerke. Kreisdirektor Dr. Knorr vertrat die höhere, an der Teilnahme verhinderte Prominenz (6)
Bürgermeister Schröder würdigte in seiner Begrüßungsrede die Bedeutung dieses Tages. Im Grundstein wurde unter anderen Dokumenten die Urkunde mit diesem Inhalt deponiert.
"Wir Magistrat und Stadtverordnete der Stadt Gernrode tun hiermit Kund und zu Wissen, dass, nachdem der Bau unseres neuen Rathauses am 1.April im Jahre Eintausendneunhundertundvierzehn, das ist im sechsundzwanzigsten Jahre der Regierung des Deutsche Kaisers Wilhelm des Zweiten, und im elften Jahre der Regierung Friedrichs des Zweiten, Herzogs von Anhalt, begonnen und darauf bis zur Errichtung des Kellergeschosses glücklich gefördert worden ist, wir heute Dienstag den fünften Mai desselben Jahres dieses Hauses Grundstein gelegt haben, „ (7)
Der Bau schritt ohne Verzögerung rüstig voran und war mit Beginn des Jahres 1915 soweit gediehen, dass die feierliche Einweihung erfolgen konnte. In seiner baukünstlerischen Gestaltung ist das Bauwerk in seiner äußeren Erscheinung prunklos aber ansprechend und trägt dem Gepräge eines städtischen Verwaltungs- und Repräsentationsbaus Rechnung. Mit seinen im schlichten Barock gehaltenen Fassaden, seinem geputzten Mauersteinverband und dem Fachwerk mit Putzflächen passt er sich gut in seine Umgebung ein.
Der Ort Gernrode war von Wassergräben, Bächen oder Mauerresten umgeben, eine geschlossene Stadtmauer hat nie existiert. Vermutlich auch ein Grund, warum man sich so schwer tat, Gernrode als Stadt zu behandeln.
Die Äbtissin war die Landesfürstin und die sah keine Notwendigkeit für eine Stadtbefestigung. Sie ging davon aus, dass das Kloster befestigt war und zu Notzeiten auch den Gernroder dort Schutz und Unterkunft gewährt würde. Da mutet doch der Umstand, dass Gernrode um 1534 drei urkundlich bestätigte Stadttore mit Torhäusern hatte, verwunderlich an. Welche Funktion hatten diese Tore? Bestandteil eines Sicherheitssystems zum Schutze der Stadt waren sie ganz offensichtlich nicht, dazu fehlten die Mauern oder mindestens Schutzwälle oder gleichartige Sicherungen. Die nachgewiesenen drei Tore dienten in erster Linie der Erhebung des Marktzolls, die Existenz der Stadtzugänge hat also eine wirtschaftliche Funktion und füllte die Stadtsäckel. Alle Zugänge zur Stadt wurden ausschließlich von Bürgern bewacht.
Quellennachweis:
- Siegfried Rietschel; „Markt und Stadt“. Siehe den Abschnitt „Verfassung des alten Fleckens“ Seite 7
- Von 1245 – 1315 war die Vogtei in der Ascherslebener Linie gewesen
- Siehe IV Seite 46: Brauordnung und Ib. Seite 50 Die Geschichte bürgerlichen Brauhauses
- Siehe I.a S. 84 (Brief des Fürsten Joachim Ernst an den Schosser Ballenstedt
- Beckmann; "Historia des Fürstentums Anhalt etc.“.(1710) Band I Seit 183
- Protokoll der Ratssitzung von 1914, Archiv Gernrode
- Auszug aus der Urkunde zur Rathausgrundsteinlegung, Archiv Gernrode